URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
11. Juni 1998 (1)
„Soziale Sicherheit Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Persönlicher
Geltungsbereich Erziehungsgeld Fortbestehen des Leistungsanspruchs nach
Umzug in einen anderen Mitgliedstaat“
In der Rechtssache C-275/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Kammarrätt
Sundsvall (Schweden) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Anne Kuusijärvi
gegen
Riksförsäkringsverket
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung mehrerer
Vorschriften der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971
zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-
und abwandern, und (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die
Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EWG)
Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und
aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 des
Rates vom 25. Juni 1991 (ABl. L 206, S. 2),
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten H. Ragnemalm sowie der Richter
R. Schintgen (Berichterstatter), G. F. Mancini, J. L. Murray und G. Hirsch,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
des Riksförsäkringsverk, vertreten durch Socialförsäkringsombud
H. Almström, Riksförsäkringsverk,
der schwedischen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Erik Brattgård,
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der niederländischen Regierung, vertreten durch Rechtsberater
J. G. Lammers als Bevollmächtigten,
der finnischen Regierung, vertreten durch Botschafter Holger Rotkirch,
Leiter des Juristischen Dienstes des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der norwegischen Regierung, vertreten durch A. Rygnestad, Abteilungsleiter
im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater P. Hillenkamp und K. Simonsson, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Riksförsäkringsverk, vertreten
durch Rechtsanwältinnen A. M. Stenberg und I. Andersson, Stockholm, der
schwedischen Regierung, vertreten durch E. Brattgård, der niederländischen
Regierung, vertreten durch M. Fierstra, stellvertretender Rechtsberater im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der finnischen
Regierung, vertreten durch T. Pynnä, Rechtsberaterin im Ministerium für
Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, und der Kommission, vertreten
durch K. Simonsson, in der Sitzung vom 6. November 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16.
Dezember 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Kammarrätt Sundsvall hat mit Beschluß vom 6. August 1996, beim Gerichtshof
eingegangen am 14. August 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach
der Auslegung mehrerer Vorschriften der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 des
Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf
Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern, und (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März
1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die
Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6)
geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr.
2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991 (ABl. L 206, S. 2), zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der finnischen
Staatsangehörigen A. Kuusijärvi (im folgenden: Klägerin) und dem
Riksförsäkringsverk (staatliche Sozialversicherungsanstalt; im folgenden: Beklagter)
über das Fortbestehen ihres Anspruchs auf Sozialversicherungsleistungen nach den
schwedischen Rechtsvorschriften, nachdem sie nach Finnland umgezogen war, wo
sie keine Berufstätigkeit ausübt.
- 3.
- Die Klägerin arbeitete bis zum 10. Februar 1993 elf Monate lang in Schweden. Im
Anschluß daran bezog sie bis zu ihrer Niederkunft am 1. Februar 1994
Arbeitslosenunterstützung. Danach erhielt sie nach den schwedischen
Rechtsvorschriften Kindergeld und als „föräldrapenning“ bezeichnete Leistungen
(im folgenden: Erziehungsgeld), die gemäß Kapitel 4 des Lag (1962:381) om allmän
försäkring (schwedisches Sozialversicherungsgesetz; im folgenden: Gesetz) anläßlich
der Geburt eines Kindes gewährt werden.
- 4.
- Nach Kapitel 4 dieses Gesetzes hat anläßlich der Geburt eines Kindes ein Elternteil
bis zur Vollendung des achten Lebensjahres des Kindes oder spätestens bis zur
Beendigung seines ersten Schuljahres für höchstens 450 Tage Anspruch auf
Erziehungsgeld, sofern der Elternteil vor dem Beginn der Leistungsgewährung
mindestens 180 Tage ohne Unterbrechung der Allgemeinen Versicherungskasse
angeschlossen war.
- 5.
- Wie sich aus den Erklärungen der schwedischen Regierung ergibt, gab diese bei
dem Inkrafttreten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl.
1994, L 1, S. 1) am 1. Januar 1994, durch das die Verordnung Nr. 1408/71 in
Schweden Geltung erlangte, gemäß Artikel 5 dieser Verordnung an, daß die
genannten Leistungen Leistungen bei Mutterschaft seien.
- 6.
- Am 24. Mai 1994 teilte die Klägerin der für sie zuständigen Versicherungskasse
ihre Absicht mit, nach Finnland umzuziehen, und fragte, ob sie nach ihrem Umzug
weiterhin Erziehungsgeld erhalte. Sie zog am 1. Juli 1994 nach Finnland um, übt
dort aber eine Berufstätigkeit aus.
- 7.
- Der Antrag der Klägerin auf Weitergewährung des Erziehungsgelds nach ihrem
Umzug nach Finnland wurde von der Allgemeinen Versicherungskasse der Provinz
Norrbotten (Norrbottens läns allmänna försäkringskassa) mit der Begründung
abgelehnt, die Klägerin sei am 1. Juli 1994 von Schweden nach Finnland
umgezogen und am 2. Juli 1994 aus dem Register der schwedischen
Versicherungskasse ausgetragen worden.
- 8.
- Gemäß Kapitel 1 § 3 des Gesetzes sind sowohl schwedische Staatsangehörige als
auch Personen ohne schwedische Staatsangehörigkeit, die in Schweden wohnen,
versichert. Ein Versicherter, der Schweden verläßt, gilt weiterhin als in Schweden
wohnend, wenn die beabsichtigte Dauer seines Auslandsaufenthalts ein Jahr nicht
übersteigt.
- 9.
- Gemäß Kapitel 1 § 4 dieses Gesetzes wird jeder Versicherte von dem Monat an,
in dem er das sechzehnte Lebensjahr vollendet, in die Allgemeine
Versicherungskasse aufgenommen, wenn er in Schweden wohnt. Nach § 5 trägt die
Allgemeine Versicherungskasse einen Versicherten aus ihrem Register aus, wenn
sie erfährt, daß die Versicherungsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt sind.
- 10.
- Bezüglich der Voraussetzung eines Wohnorts im Gebiet des Königreichs bestimmen
die Riksförsäkringsverkets föreskrifter (RFFS 1985:16) om inskrivning och
avregistrering hos allmän försäkringskasse (Vorschriften des Riksförsäkringsverk
über Eintragung und Streichung im Register einer Sozialversicherung), daß eine
Person als in Schweden wohnend gilt, wenn sie tatsächlich ihren Wohnsitz dort hat,
wenn sie sich in der Absicht nach Schweden begibt, sich dort ständig aufzuhalten,
oder wenn sie die Absicht hat, sich für eine begrenzte Zeit in Schweden
aufzuhalten, und der Anlaß hierfür eine Berufstätigkeit oder eine Ausbildung ist
und der Aufenthalt länger als ein Jahr dauern soll. Darüber hinaus gilt eine Person,
die aufgrund der Verordnung Nr. 1408/71 Anspruch auf Leistungen nach den
schwedischen Rechtsvorschriften hat, als in Schweden wohnend, solange sie
Anspruch auf diese Leistungen hat, selbst wenn sie die angeführten
Wohnortvoraussetzungen nicht erfüllt.
- 11.
- Nach den genannten Vorschriften des Beklagten wird ein Versicherter, der in ein
anderes nordisches Land in der Absicht umzieht, sich dort für mehr als ein Jahr
aufzuhalten, aus dem Register der Versicherungskasse ausgetragen, wenn er in
Schweden aus dem Einwohnermelderegister ausgetragen wird. Begibt sich aber eine
unter die Verordnung Nr. 1408/71 fallende Person in einen anderen Mitgliedstaat,
so wird sie aus dem Register der Versicherungskasse ausgetragen, sobald sie gemäß
der Verordnung unter die Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats fällt, auch wenn
die beabsichtigte Dauer des Aufenthalts in diesem anderen Mitgliedstaat kürzer als
ein Jahr ist.
- 12.
- Die Klage, die die Klägerin gegen die Entscheidung, ihr die streitigen Leistungen
nach ihrem Umzug nach Finnland nicht weiter zu gewähren, und gegen ihre
Austragung aus dem Register der schwedischen Sozialversicherungskasse beim
Länsrätt Norrbotten erhoben hatte, wurde abgewiesen, woraufhin die Klägerin
Berufung beim Kammarrätt Sundsvall einlegte.
- 13.
- Sie beruft sich vor diesem Gericht auf Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der
Verordnung Nr. 1408/71, in dem es heißt:
„(1) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften
des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen
Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18,
erfüllt und
...
b) der, nachdem er zu Lasten des zuständigen Trägers leistungsberechtigt
geworden ist, von diesem Träger die Genehmigung erhalten hat, in
das Gebiet des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, zurückzukehren oder
einen Wohnortwechsel in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats
vorzunehmen, ...
hat Anspruch auf:
...
ii) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen
Träger geltenden Rechtsvorschriften ...“
- 14.
- Die Klägerin macht geltend, sie habe nach dieser Vorschrift bei Mutterschaft
Anspruch darauf, daß ihr die als Erziehungsgeld zu gewährenden Geldleistungen
auch nach ihrem Umzug nach Finnland weiterhin so lange gezahlt würden, wie in
Schweden lebende Personen hierauf Anspruch hätten.
- 15.
- Das Riksförsäkringsverk, das in seiner Eigenschaft als öffentlich-rechtliche
Einrichtung vor dem vorlegenden Gericht Beklagter ist, führt aus, der Anspruch der
Klägerin auf Gewährung von Leistungen bei Mutterschaft nach schwedischem
Recht sei erloschen, da sie nach ihrem Umzug nach Finnland die Voraussetzung,
daß sie in Schweden wohne, nicht mehr erfülle, so daß die schwedischen
Rechtsvorschriften nicht mehr auf sie anwendbar seien.
- 16.
- Der Beklagte verweist insoweit zum einen auf Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der
Verordnung Nr. 1408/71, der durch die Verordnung Nr. 2195/91 eingefügt wurde.
Dieser lautet: „Eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht
weiterhin unterliegt, ohne daß die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats
gemäß einer der Vorschriften in den vorhergehenden Buchstaben oder einer der
Ausnahmen bzw. Sonderregelungen der Artikel 14 bis 17 auf sie anwendbar
würden, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie
wohnt, nach Maßgabe allein dieser Rechtsvorschriften.“ Der Beklagte beruft sich
zum anderen auf den ebenfalls durch die Verordnung Nr. 2195/91 eingefügten
Artikel 10b der Verordnung Nr. 574/72, in dem es heißt: „Der Zeitpunkt und die
Voraussetzungen, zu denen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiter
für die in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f) der Verordnung genannte Person
gelten, werden nach diesen Rechtsvorschriften bestimmt.“
- 17.
- Das nationale Gericht hält für die Entscheidung des bei ihm anhängigen
Rechtsstreits die Auslegung einiger Bestimmungen der Verordnungen Nr. 1408/71
und Nr. 574/72 für erforderlich. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 überhaupt auf eine Person
anwendbar, die, bevor die Verordnung in Schweden galt, von Finnland nach
Schweden umzog und dort arbeitete, die jedoch weder bei Inkrafttreten der
Verordnung in Schweden dort erwerbstätig war noch sich als Arbeitslose
dorthin begab, nachdem die Verordnung in Schweden galt, sondern die sich
dort in diesem Zeitpunkt nach einer früheren Beschäftigungszeit nur als
Arbeitslose aufhielt und dabei in Schweden Arbeitslosengeld erhielt? Kann
also eine Person unter diesen Umständen geltend machen, daß sie nach
dem 1. Januar 1994 aufgrund der Bestimmungen der Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 unter die schwedischen Rechtsvorschriften fällt, soweit es um
den Anspruch auf schwedische Sozialversicherungsleistungen in Form von
Erziehungsgeld (föräldrapenning) geht?
Falls diese Frage bejaht wird, stellen sich folgende Fragen:
2. Ist Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 in
Verbindung mit Artikel 10b der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 dahin
auszulegen, daß es einem Mitgliedstaat freisteht, Voraussetzungen bezüglich
eines inländischen Wohnsitzes aufzustellen, damit eine Person, die in diesem
Staat nicht mehr arbeitet, hinsichtlich der Geldleistungen bei Mutterschaft
weiter unter die Rechtsvorschriften dieses Staates fällt?
3. Ist Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, daß eine
Person, die in einem zuständigen Staat anfänglich Geldleistungen bei
Mutterschaft erhält, unter den im übrigen in diesem Artikel aufgestellten
Voraussetzungen beim Umzug in einen anderen Mitgliedstaat nur dann
weiter Anspruch auf diese Geldleistungen hat, wenn sie sämtliche
Bedingungen der in dem zuständigen Land geltenden gesetzlichen Regelung
erfüllt, d. h. auch die zu diesen Bedingungen gehörende Voraussetzung
eines inländischen Wohnsitzes, oder ist Artikel 22 dahin auszulegen, daß
dieser Anspruch besteht, solange die betreffende Person bis auf die
Wohnsitzvoraussetzung alle anderen Voraussetzungen erfüllt, die in der
nationalen Regelung des Staates, aus dem sie wegzieht, vorgesehen sind?
Zur ersten Frage
- 18.
- Mit seiner ersten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob die Verordnung
Nr. 1408/71 auf eine Person anwendbar ist, die zunächst in einem Mitgliedstaat
erwerbstätig war und sich später bei Inkrafttreten der genannten Verordnung in
diesem Staat als Arbeitslose dort aufhielt und daher nach dem System der sozialen
Sicherheit dieses Staates Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezog.
- 19.
- Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ist in ihrem Artikel
2 definiert. Nach Artikel 2 Absatz 1 gilt die Verordnung für Arbeitnehmer und
Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten
gelten oder galten.
- 20.
- Die in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verwendeten Begriffe
„Arbeitnehmer“ und „Selbständiger“ sind in Artikel 1 Buchstabe a definiert. Sie
bezeichnen jede Person, die im Rahmen eines der in Artikel 1 Buchstabe a
aufgeführten Systeme der sozialen Sicherheit gegen die in dieser Vorschrift
angegebenen Risiken unter den dort genannten Voraussetzungen versichert ist (vgl.
Urteile vom 3. Mai 1990 in der Rechtssache C-2/89, Kits van Heijningen, Slg. 1990,
I-1755, Randnr. 9, und vom 30. Januar 1997 in den Rechtssachen C-4/95 und C-5/95, Stöber und Piosa Pereira, Slg. 1997, I-511, Randnr. 27).
- 21.
- Wie der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96
(Martínez Sala, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 36) ausgeführt hat, besitzt eine Person
somit die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71, sofern
sie auch nur gegen ein einziges Risiko bei einem der in Artikel 1 Buchstabe a der
Verordnung Nr. 1408/71 genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der
sozialen Sicherheit unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses
pflichtversichert oder freiwillig versichert ist.
- 22.
- Dies trifft mit Sicherheit auf eine Person zu, die sich als Arbeitslose in einem
Mitgliedstaat aufhält und dort nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats
Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhält.
- 23.
- War eine solche Person bereits arbeitslos, als die Verordnung Nr. 1408/71 in dem
betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, und bezog sie aufgrund einer von ihr vor
diesem Zeitpunkt dort ausgeübten Erwerbstätigkeit Leistungen bei Arbeitslosigkeit,
so kann dieser Umstand sie nicht vom persönlichen Geltungsbereich der
Verordnung ausschließen.
- 24.
- Artikel 94 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht nämlich ausdrücklich vor,
daß ein Leistungsanspruch auch für Ereignisse begründet wird, die vor der
Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegen.
- 25.
- Auch Artikel 94 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 regelt, daß für die
Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach der Verordnung sämtliche
Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungs- und
Wohnzeiten berücksichtigt werden, die nach den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats vor Anwendung der Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats
zurückgelegt worden sind.
- 26.
- Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß die Verordnung Nr. 1408/71 auf
eine Person anwendbar ist, die zunächst in einem Mitgliedstaat erwerbstätig war
und sich später bei Inkrafttreten der genannten Verordnung in diesem Staat als
Arbeitslose dort aufhielt und daher nach dem System der sozialen Sicherheit dieses
Staates Leistungen bei Arbeitslosigkeit bezog.
Zur zweiten Frage
- 27.
- Mit seiner zweiten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob der durch die
Verordnung Nr. 2195/91 eingefügte Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der
Verordnung Nr. 1408/71 Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht,
nach denen eine Person, die jede Berufstätigkeit im Gebiet dieses Staates
aufgegeben hat, nur dann weiterhin unter die Rechtsvorschriften dieses
Mitgliedstaats fallen kann, wenn sie auch ferner dort wohnt.
- 28.
- Die Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, zu denen Artikel 13
gehört, bilden ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen. Mit
diesen Vorschriften sollen nicht nur die gleichzeitige Anwendung von
Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich
daraus ergeben können, vermieden werden, sondern sie sollen auch verhindern, daß
Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, der
Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine
nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind (vgl. insbesondere Urteil Kits
van Heijningen, Randnr. 12)
- 29.
- Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 soll nur festlegen, welche
nationalen Rechtsvorschriften für Personen gelten, bei denen einer der in Artikel
13 Absatz 2 Buchstaben a bis f aufgeführten Fälle vorliegt. Diese Bestimmungen
legen als solche nicht die Voraussetzungen fest, unter denen eine Person einem
System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems
beitreten kann oder muß. Wie der Gerichtshof mehrfach festgestellt hat, ist es
Sache jedes Mitgliedstaats, durch den Erlaß von Rechtsvorschriften diese
Voraussetzungen, einschließlich der Voraussetzungen für die Beendigung der
Versicherungszugehörigkeit, festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kits van
Heijningen, Randnr. 19, und Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-245/88, Daalmeijer, Slg. 1991, I-555, Randnr. 15).
- 30.
- Allerdings sind die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Voraussetzungen für den
Beitritt zu einem System der sozialen Sicherheit verpflichtet, das geltende
Gemeinschaftsrecht zu beachten, und dürfen insbesondere die Personen, auf die
die in Rede stehenden Rechtsvorschriften nach der Verordnung Nr. 1408/71
anwendbar sind, nicht vom Anwendungsbereich dieser Rechtsvorschriften
ausschließen (vgl. Kits van Heijningen, Randnr. 20).
- 31.
- Wie der Gerichtshof in Randnummer 21 des Urteils Kits van Heijningen festgestellt
hat, würden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die in ihnen vorgesehene
Aufnahme einer im Gebiet dieses Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis
beschäftigten Person in das System der sozialen Sicherheit davon abhängig machen,
daß diese Person dort wohnt, Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr.
1408/71 jede praktische Wirksamkeit nehmen, der bestimmt, daß eine Person, die
im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, den
Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt, und zwar auch dann, wenn sie im
Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.
- 32.
- Hat jedoch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine Person, die im
Gebiet dieses Staates nicht mehr im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist
und damit die Voraussetzungen des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a der
Verordnung Nr. 1408/71 nicht mehr erfüllt, nur dann Anspruch auf Aufnahme oder
Verbleib im System der sozialen Sicherheit dieses Mitgliedstaats, wenn sie in dessen
Gebiet wohnt, so wird weder Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f dieser Verordnung
seine praktische Wirksamkeit genommen noch der Betroffene vom
Anwendungsbereich aller, insbesondere der nach der Verordnung Nr. 1408/71
anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit ausgeschlossen.
- 33.
- Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f dient im Gegenteil der Regelung eines solchen
Falles. Nach dieser Bestimmung sind auf eine Person, die weder nach den anderen
Bestimmungen des Artikels 13 Absatz 2, darunter Buchstabe a, noch nach den
Artikeln 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin den Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats unterliegt, die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anwendbar,
in dessen Gebiet sie wohnt.
- 34.
- Auf eine Person, die nicht mehr im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder
Gehaltsverhältnis beschäftigt ist und die folglich die Voraussetzungen des Artikels
13 Absatz 2 Buchstabe a nicht mehr erfüllt und die auch nach keiner anderen
Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats unterliegt, sind nach Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f nach Maßgabe
der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, entweder die
Rechtsvorschriften des Staates anwendbar, in dem sie früher eine Tätigkeit im
Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, falls sie dort weiterhin wohnt, oder die
Rechtsvorschriften des Staates, in den sie umgezogen ist.
- 35.
- Die schwedische und die norwegische Regierung machen geltend, Artikel 13 Absatz
2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 sei nur anwendbar, wenn der
Betroffene, der in einen anderen Mitgliedstaat umgezogen sei, endgültig jede
Berufstätigkeit aufgegeben habe. Eine Person, die nur vorübergehend nicht
berufstätig sei, unterliege gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a weiterhin den
Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats ihrer letzten Beschäftigung, auch wenn sie in
einen anderen Mitgliedstaat umziehe.
- 36.
- Wie der Gerichtshof in dem Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache 302/84
(Ten Holder, Slg. 1986, 1821) entschieden habe, sei Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe
a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, daß ein Arbeitnehmer, der
seine im Gebiet eines Mitgliedstaats ausgeübte Tätigkeit beendet und danach nicht
im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats gearbeitet habe, weiterhin den
Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung unterliege,
unabhängig davon, wieviel Zeit seit der Beendigung der in Rede stehenden
Tätigkeit und dem Ende des Arbeitsverhältnisses verstrichen sei. Ferner ergebe sich
insbesondere aus dem Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-140/88
(Noij, Slg. 1991, I-387, Randnrn. 9 und 10), daß nur die Arbeitnehmer, die
endgültig jede Berufstätigkeit aufgegeben hätten, außerhalb des
Anwendungsbereichs des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr.
1408/71 stünden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 1992 in der Rechtssache
C-215/90 (Twomey, Slg. 1992, I-1823, Randnr. 10).
- 37.
- Die niederländische Regierung und in der mündlichen Verhandlung die finnische
Regierung haben eingewandt, daß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung
Nr. 1408/71 ausdrücklich eine Kollisionsregel für Fälle wie den des
Ausgangsverfahrens festlege, in denen eine Person, gleichgültig aus welchem Grund,
in einem bestimmten Mitgliedstaat jede Berufstätigkeit aufgegeben habe und in
einem anderen Mitgliedstaat wohne, ohne dort erwerbstätig zu sein. Die
Rechtsprechung des Urteils Ten Holder sei damit überholt.
- 38.
- Die Kommission führt aus, diese Rechtsprechung habe ihre Bedeutung behalten
und Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 komme, außer
in Fällen, in denen der Betroffene endgültig jede Berufstätigkeit aufgegeben habe,
erst zur Anwendung, wenn im Staat der letzten Beschäftigung kein
Leistungsanspruch mehr bestehe.
- 39.
- Aus dem Wortlaut des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr.
1408/71 ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß diese Bestimmung nur für
Arbeitnehmer gilt, die endgültig jede Berufstätigkeit aufgegeben haben, nicht aber
für Arbeitnehmer, die ihre Berufstätigkeit nur in einem bestimmten Mitgliedstaat
beendet haben.
- 40.
- Diese Bestimmung ist im Gegenteil allgemein formuliert, so daß sie jeden Fall
erfaßt, in dem eine Person, gleichgültig aus welchem Grund, den
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht mehr unterliegt; sie ist nicht auf Fälle
beschränkt, in denen der Betroffene seine Berufstätigkeit in einem bestimmten
Mitgliedstaat endgültig oder vorübergehend beendet hat.
- 41.
- Würde Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 nur auf den
Fall einer endgültigen Aufgabe jeder Berufstätigkeit angewandt, würde er einen
Teil seiner Bedeutung verlieren.
- 42.
- Wie sich aus der dritten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 2195/91 ergibt,
wurde Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f auf das Urteil Ten Holder hin in die
Verordnung Nr. 1408/71 aufgenommen.
- 43.
- Dieses Urteil betraf den Fall einer Person, die ihre Berufstätigkeit im Gebiet eines
Mitgliedstaats beendet hatte, dort nach den Rechtsvorschriften dieses MitgliedstaatsKrankengeld erhielt und in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats umgezogen
war, ohne dort während des Bezugs dieses Krankengelds eine Tätigkeit
aufzunehmen, wobei jedoch nicht feststand, ob diese Person endgültig jede
Berufstätigkeit aufgegeben hatte und in ihrem neuen Wohnstaat keine solche
Tätigkeit aufnehmen würde.
- 44.
- Obwohl dieser Fall in keiner Bestimmung des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71
ausdrücklich geregelt ist, hat der Gerichtshof im Urteil Ten Holder entschieden,
daß eine solche Person gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a weiterhin den
Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats ihrer letzten Beschäftigung unterliege.
- 45.
- Der Gemeinschaftsgesetzgeber wollte also durch die Einfügung des Artikels 13
Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 den Fall einer Person, die sich
in einer solchen Lage befindet, ausdrücklich regeln.
- 46.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 56 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, ergibt
sich dies im übrigen aus der Begründung des Änderungsvorschlags der Kommission,
der zum Erlaß des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe f geführt hat. Nach dieser
Begründung sollte nämlich die durch das Urteil Ten Holder aufgezeigte „Lücke“
in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 geschlossen werden, die deshalb vorhanden
gewesen sei, weil es dort „keine ausdrückliche Bestimmung zur Festlegung der
Rechtsvorschriften [gab], die für Personen gelten, die aufgehört haben, irgendeine
Erwerbstätigkeit im Schutze der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats auszuüben,
und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen“.
- 47.
- Die vorstehende Auslegung wird im übrigen durch eine weitere, vom
Gemeinschaftsgesetzgeber gleichzeitig vorgenommene Änderung der fraglichen
Regelung bestätigt, die nach der dritten Begründungserwägung der Verordnung Nr.
2195/91 eng mit dem Erlaß des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe f zusammenhängt.
- 48.
- Nach dieser Begründungserwägung bedingte nämlich die Aufnahme des Artikels
13 Absatz 2 Buchstabe f in die Verordnung Nr. 1408/71 eine Anpassung des
Artikels 17, die es zwei oder mehr Mitgliedstaaten, den zuständigen Behörden
dieser Staaten oder den von diesen Behörden bezeichneten Stellen erlaubt,
Ausnahmen von den Artikeln 13 bis 16 zu vereinbaren.
- 49.
- Nach dieser Anpassung können solche Ausnahmen nunmehr nicht nur im Interesse
von Personen vereinbart werden, die im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt
sind oder eine selbständige Tätigkeit ausüben, sondern im Interesse aller Personen,
unabhängig davon, ob sie eine solche Tätigkeit ausüben.
- 50.
- Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 ist demnach auf eine
Person anwendbar, die ihre Berufstätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats beendet
hat und in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats umgezogen ist, und steht
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, die für den Beitritt zu einem
System der sozialen Sicherheit dieses Mitgliedstaats eine Wohnortvoraussetzung
aufstellen.
- 51.
- Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß der durch die Verordnung Nr.
2195/91 eingefügte Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach denen eine
Person, die jede Berufstätigkeit im Gebiet dieses Staates aufgegeben hat, nur dann
weiterhin unter die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats fallen kann, wenn sie
auch ferner dort wohnt.
Zur dritten Frage
- 52.
- Mit seiner dritten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob Artikel 22 der
Verordnung Nr. 1408/71 Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht,
nach denen eine Person, die jede Berufstätigkeit im Gebiet dieses Staates
aufgegeben hat, den Anspruch auf die weitere Gewährung von Erziehungsgeld der
im Ausgangsverfahren fraglichen Art verliert, wenn sie in einen anderen
Mitgliedstaat umgezogen ist.
- 53.
- Artikel 22 gehört zu Kapitel 1 „Krankheit und Mutterschaft“ des Titels III der
Verordnung Nr. 1408/71. Seine Anwendung setzt daher voraus, daß das im
Ausgangsverfahren fragliche Erziehungsgeld Leistungen bei Krankheit oder
Mutterschaft im Sinne dieses Kapitels darstellt.
- 54.
- Wie sich aus Randnummer 5 dieses Urteils ergibt, hatte die schwedische Regierung
beim Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 im schwedischen Hoheitsgebiet
gemäß Artikel 5 dieser Verordnung angegeben, daß das Erziehungsgeld eine
Leistung bei Mutterschaft sei.
- 55.
- In ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof hat die schwedische Regierung jedoch
darauf hingewiesen, daß die im Ausgangsverfahren fraglichen Leistungen unter
Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofes vom 10. Oktober 1996 in den
Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 (Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895)
nunmehr als Familienleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen
seien.
- 56.
- Eine sachgerechte Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts verlangt
daher die Einordnung des im Ausgangsverfahren streitigen Erziehungsgelds anhand
der Verordnung Nr. 1408/71.
- 57.
- Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Leistung dann eine in den Geltungsbereich
der Verordnung Nr. 1408/71 fallende Leistung der sozialen Sicherheit, wenn sie den
Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird,
ohne daß im Einzelfall eine in das Ermessen gestellte Prüfung des persönlichen
Bedarfs erfolgt, und wenn sie sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (Urteil vom 5.
März 1998 in der Rechtssache C-160/96, Molenaar, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 20).
- 58.
- Was die erste dieser beiden Voraussetzungen anbelangt, so steht fest, daß die
Vorschriften über die Gewährung des Erziehungsgelds für die Begünstigten einen
gesetzlich umschriebenen Anspruch begründen und daß diese Leistungen Personen
gewährt werden, die bestimmte objektive Kriterien erfüllen, ohne daß im Einzelfall
eine in das Ermessen gestellte Prüfung ihres persönlichen Bedarfs erfolgt.
- 59.
- Im Hinblick auf die zweite Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, daß in Artikel 1
Buchstabe u Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 der Begriff der
„Familienleistungen“ wie folgt definiert wird: „.Familienleistungen': alle Sach- oder
Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel
4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit
Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburtsbeihilfen“.
- 60.
- Wie sich aus dem Urteil Hoever und Zachow ergibt, ist eine Leistung, die einem
Elternteil ermöglichen soll, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen
Erziehung zu widmen, und die genauer betrachtet dazu dient, die Erziehung des
Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen
und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein
Erwerbseinkommen bedeutet, abzumildern, einer Familienleistung im Sinne der
Artikel 1 Buchstabe u Ziffer i und 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr.
1408/71 gleichzustellen.
- 61.
- Nach den Akten entspricht das im Ausgangsverfahren fragliche Erziehungsgeld
diesen Kriterien.
- 62.
- Diese anläßlich der Geburt eines Kindes gewährte Leistung wird beiden
Elternteilen gemeinsam bis zur Vollendung des achten Lebensjahres des Kindes
oder spätestens bis zur Beendigung seines ersten Schuljahres für einen Zeitraum
von höchstens 450 Tagen gewährt, während dessen ein Elternteil nicht zu arbeiten
braucht. Üben die Eltern die elterliche Sorge für das Kind gemeinsam aus, so
bezieht jeder von ihnen die Leistung während der Hälfte der Zeit. Übt ein
Elternteil das Sorgerecht für das Kind allein aus, so hat er für den gesamten
vorgesehenen Zeitraum Anspruch auf Erziehungsgeld.
- 63.
- Zwar erhält die Mutter vom sechzigsten Tag vor dem voraussichtlichen
Geburtstermin des Kindes an Erziehungsgeld, doch hat während des weitaus
überwiegenden Teils des Leistungszeitraums der Elternteil Anspruch auf
Erziehungsgeld, der in erster Linie die elterliche Sorge für das Kind ausübt, welcher
also auch der Vater sein kann.
- 64.
- Ferner richtet sich der Leistungsbetrag, unter bestimmten Voraussetzungen und mit
bestimmten Einschränkungen, unmittelbar nach dem Erwerbseinkommen des
betroffenen Elternteils. Dieser Elternteil hat nämlich unter der Voraussetzung, daß
er vor der Geburt oder dem voraussichtlichen Geburtstermin mindestens 240 Tage
ohne Unterbrechung bei einer Krankenkasse versichert gewesen ist, für 360 der 450
Tage, für die das Erziehungsgeld gewährt wird, Anspruch auf eine Leistung, die den
garantierten Mindestbetrag von 60 SKR pro Tag übersteigt und im allgemeinen
75 % des zuvor von ihm bezogenen Erwerbseinkommens entspricht.
- 65.
- Diese Bestimmungen zeigen, daß das Erziehungsgeld den Eltern ermöglichen soll,
während der ersten Lebensphase eines Kindes bis zur Erreichung des Schulalters
die elterliche Sorge abwechselnd auszuüben, und daß es in bestimmtem Umfang
den Einkommensverlust ausgleichen soll, der sich für den die elterliche Sorge
ausübenden Elternteil aus dem vorübergehenden Verzicht auf die Ausübung seiner
Berufstätigkeit ergibt.
- 66.
- Demnach sind die Sonderbestimmungen für Familienleistungen des Kapitels 7 des
Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 für die Frage heranzuziehen, ob eine Person
in der Lage der Klägerin weiterhin Anspruch auf Familienleistungen hat, die ihr
nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gewährt worden sind, auch wenn
sie jede Berufstätigkeit im Gebiet dieses Mitgliedstaats aufgegeben hat und in einen
anderen Mitgliedstaat umgezogen ist.
- 67.
- Artikel 73 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr.
3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. L 331, S. 1) lautet: „Ein
Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines
Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI für
seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen,
Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates,
als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“
- 68.
- Wie der Gerichtshof in dem Urteil vom 17. Mai 1984 in der Rechtssache 101/83
(Brusse, Slg. 1984, 2223, Randnr. 30) festgestellt hat, begründet dieser Artikel
zugunsten des Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines anderen
Mitgliedstaats als desjenigen unterliegt, in dessen Gebiet seine Familienangehörigen
wohnen, einen echten Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach den
anwendbaren Rechtsvorschriften, der nicht durch die Anwendung einer in diesen
Rechtsvorschriften enthaltenen Klausel entzogen werden darf, nach der
Familienleistungen nur an Personen gezahlt werden, die im Gebiet des
betreffenden Mitgliedstaats wohnen.
- 69.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19.
Februar 1981 in der Rechtssache 104/80, Beeck, Slg. 1981, 503, Randnrn. 7 und 8,
vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91, Hughes, Slg. 1992, I-4839,
Randnr. 28, und Urteil Hoever und Zachow, Randnr. 38) ist diese Vorschrift auch
auf einen Arbeitnehmer anwendbar, der mit seiner Familie in einem anderen
Mitgliedstaat lebt als demjenigen, dessen Rechtsvorschriften er unterliegt.
- 70.
- Das gleiche gilt für Artikel 74 der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung der
Verordnung Nr. 3427/89, durch den die Regel des Artikels 73 auf einen
arbeitslosen Arbeitnehmer oder einen arbeitslosen Selbständigen angewandt wird,
der nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats Leistungen bei Arbeitslosigkeit
bezieht.
- 71.
- Eine Person in der Lage der Klägerin erfüllt jedoch weder die Voraussetzungen des
Artikels 73 noch des Artikels 74 der Verordnung Nr. 1408/71, weil weder sie noch
ihre Familienangehörigen jemals in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt haben
als demjenigen, dessen Rechtsvorschriften die Klägerin unterliegt. Dies folgt
insbesondere daraus, daß eine Person in einer solchen Lage nach ihrem Umzug in
einen anderen Mitgliedstaat gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f der
Verordnung Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt, wie
sich aus der Antwort auf die Frage 2 ergibt.
- 72.
- Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71, nach dem bestimmte Leistungen, auf die
nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten ein Anspruch
erworben worden ist, u. a. nicht deshalb entzogen werden dürfen, weil der
Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen
Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat, gilt nur für die dort
ausdrücklich genannten Leistungen, zu denen die Familienleistungen nicht gehören.
- 73.
- Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, daß die Verordnung Nr. 1408/71
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach denen eine
Person, die jede Berufstätigkeit im Gebiet dieses Staates aufgegeben hat, den
Anspruch auf die weitere Gewährung von nach diesen Rechtsvorschriften
gewährten Familienleistungen verliert, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaatumgezogen ist, in dem sie mit ihren Familienangehörigen wohnt.
Kosten
- 74.
- Die Auslagen der schwedischen, der niederländischen, der finnischen und der
norwegischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom Kammarrätt Sundsvall mit Beschluß vom 6. August 1996
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur
Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der
Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG)
Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten
Fassung ist auf eine Person anwendbar, die zunächst in einem Mitgliedstaat
erwerbstätig war und sich später bei Inkrafttreten der genannten
Verordnung in diesem Staat als Arbeitslose dort aufhielt und daher nach
dem System der sozialen Sicherheit dieses Staates Leistungen bei
Arbeitslosigkeit bezog.
2. Der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991
in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügte Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe f
steht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, nach denen
eine Person, die jede Berufstätigkeit im Gebiet dieses Staates aufgegeben
hat, nur dann weiterhin unter die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats
fallen kann, wenn sie auch ferner dort wohnt.
3. Die Verordnung Nr. 1408/71 steht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats
nicht entgegen, nach denen eine Person, die jede Berufstätigkeit im Gebiet
dieses Staates aufgegeben hat, den Anspruch auf die weitere Gewährung von
nach diesen Rechtsvorschriften gewährten Familienleistungen verliert, wenn
sie in einen anderen Mitgliedstaat umgezogen ist, in dem sie mit ihren
Familienangehörigen wohnt.
Ragnemalm Schintgen
Mancini Murray
Hirsch
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. Juni 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
H. Ragnemalm